Autor: Stefan Schill, erstellt 31. März 2001 (Schill.Stefan@t-online.de)
I. Mythos des Journalismus II. Analyse des Journalismus III. Philosophie des Journalismus IV. Technik des Journalismus I. Mythos des Journalismus Der Journalismus ist eine Erfindung der Schrift,
könnte man meinen, eine pragmatische Übereinkunft in Bezug auf
Textformen, die nicht weiter begründbar ist. Wenn also journalistische
Texte geschrieben werden, dann nur so, wie es die Lehrbücher vorsehen.
Auch das Internet wird die bewährten journalistischen Darstellungsformen
übernehmen, und alle Journalisten, die von der Norm abweichen, haben
sich im Beruf geirrt.
Nun denn, die klassischen Formen wie Bericht,
Meldung, Reportage lassen sich bereits in den mündlichen Überlieferungen
wiederfinden, die Homer im achten vorchristlichen Jahrhundert
aufgeschrieben hat. Und was im Print-Bereich unter Leitartikel,
Überschrift und Interview zu finden ist, entspricht das im Internet
nicht etwa der Mitteilung, dem Link und dem Forum? |
IDEAL | INTERNET | |
Nachricht | Überschrift | Link |
Reportage | Interview | Forum |
Dokumentation | Feature/Analyse | Datenbank |
Kritik | Kolumne | Gästebuch |
Kommentar | Lead | Teaser |
Bericht | Leitartikel | Mitteilung |
II. Analyse des Journalismus a) Nachricht, Überschrift, Link Eine Meldung ist das Ausplappern einer Neuigkeit in einem Zug. Ein Soldat kommt angerannt und meldet seinem Vorgesetzten: "Troja ist gefallen, der Sieg ist unser..!" Ein Raunen geht durch den Saal. Die Anwesenden sind erregt. Der Chronist bringt nun diese Neuigkeit zu Papier und ergänzt sie durch eine Quellenangabe zur Nachricht. Die Stadt Troja ist in den Morgenstunden erobert worden. Einer Mitteilung der Heeresleitung zufolge... Eine Überschrift ist genauso informativ wie eine Meldung. Sie kann aus bis zu drei Teilen bestehen: Obertitel, Haupttitel, Untertitel. Meistens begnügt man sich jedoch mit zweien, dem Haupttitel und dem Untertitel. DAS PFERD WAR EINE FALLE Allein Kassandra hat davor gewarnt Der Untertitel präzisiert den Hauptitel oder nennt einen weiteren Schwerpunkt des Textes. Der Obertitel bringt den Leser dagegen erst einmal auf die richtige Fährte. Odysseus' Idee: DAS PFERD WAR EINE FALLE Allein Kassandra hat davor gewarnt Troja: DAS PFERD WAR EINE FALLE Allein Kassandra hat davor gewarnt Da der Obertitel ein Ortsname ist, rutscht dieser als Spitzmarke an den Anfang des Textes. DAS PFERD WAR EINE FALLE Allein Kassandra hat davor gewarnt TROJA - Mit einer List haben die Griechen den zehnjährigen Krieg um Troja für sich entschieden. Nach Auskunft... Eine Überschrift mit nur einem Titel heißt Schlagzeile. Schlagzeilen sind reißerisch und oft ein klein wenig übertrieben. ODYSSEUS EROBERT TROJA Der Krieg um den Zugang zum Schwarzen Meer ist zu Ende. Nach zehnjähriger Belagerung... TROJA IN SCHUTT UND ASCHE Das haben sie nun davon. Die Liebe zwischen Helena, Ehefrau des Menelaos, und Paris, Sohn des Priamos, konnte nicht ungestraft bleiben... Ein Link ist eine anklickbare Überschrift, die eher ausführlich formuliert ist. Ein Link muss extra gesetzt werden, sein Auftauchen in einem Newsticker kündigt eine neue Meldung an. Neuartige Kriegslist in Troja erfolgreich b) Reportage, Interview, Forum
Eine Reportage ist eine Art Erlebnisbericht. Ich war dort. Ich war dabei. Mein Intellekt und meine Gefühle spielen Achterbahn mit mir. Ich springe zwischen den einzelnen Ebenen von dem, was ich unbedingt erzählen will. Die Assoziationen verlassen Raum und Zeit. Meine Geschichte ist furchtbar spannend und gerade deshalb schreibe ich sie nieder. Eine Art Vorsehung hat dafür gesorgt, daß das, was am Anfang passiert war und was ich bereits vergessen hatte, auf einmal eine gewichtige Rolle gespielt hat. Dumme Zufälle eben, die das Leben so schreibt. Bei einem Interview
wird dem Leser vorgegaukelt, er selbst habe mit dem Prominenten
gesprochen oder sei zumindest dabei gewesen. Die Kunst des Interviews
besteht darin, den Menschen hinter der Fassade hervorzulocken. Sein
Innenleben soll der Befragte schildern. Die unbedacht geäußerten
Wünsche, Ängste und Überzeugungen sind menschlich und stehen auf der
höchsten Prioritätsstufe. Biographisches gehört statt dessen ins
Portrait.
Ein Forum ist
ein öffentlicher Platz für den Meinungsaustausch. Jeder kann seine
Meinung posten und in Echtzeit auf die Antworten der Teilnehmer
reagieren. Ein Moderator greift koordinierend in die Gespräche ein und
gibt vor, was gerade off topic bzw. on topic ist.
c) Dokumentation, Feature/Analyse, Datenbank
Eine Dokumentation ist ein Rückblick auf ein Ereignis, welches bereits länger zurückliegt. In der verstrichenen Zeit haben sich die Emotionen beruhigt. Es liegt inzwischen auch genügend Material vor, um das Thema anständig zu behandeln. Die Aufbereitung dient der Aufklärung und schult den Leser. Ein Feature
schreitet vom Besonderen zum Allgemeinen voran. Ich stelle mich dumm und
beginne, eine Szene zu beschreiben, deren Sinn ich nicht verstehe.
Jetzt kommt der naturwissenschaftliche Hammer. Die Szene, die ich gerade
beschrieben habe, ist symptomatisch für diesen oder jenen Sachverhalt.
Das brauche ich dann nur noch mit Daten zu unterfüttern.
Wer sich nicht dumm stellen will oder den
Naturwissenschaften die Zuständigkeit zur Erforschung des Sachverhaltes
abspricht, der sollte in einer Analyse
mit dem geistig dahinschwebenden Allgemeinen beginnen und das Gesehene
oder Geschehene darunter subsumieren. Aus dem szenischen Einstieg wird
dann ein literarischer.
Eine Datenbank
sammelt und ordnet Daten. Sie versteht sich als Dienstleistung.
Querverweise helfen, alle Aspekte zu überblicken. Kurze Texte erläutern
die zusammenfassenden Tabellen und Diagramme. Eine Suchmaschine sichtet
den Katalog in Sekundenschnelle.
d) Kritik, Kolumne, Gästebuch
Ähnlich dem Interview vermischen sich auch bei der Kritik gegenwärtig zwei verschiedene Dinge. Zum einen macht ein Kritiker den individuellen oder ideologischen Zugang des Künstlers zum Thema deutlich. Sie verrät die Stärken und Schwächen der Argumentation und stellt Bezüge zur Arbeit her. Zum anderen benotet ein Kritiker als Oberlehrer die Arbeit und schreibt zugleich die Biographie des Künstlers. Eine Kolumne
wird eigens dafür reserviert und freigehalten, um darin offene Briefe
oder Essays abzudrucken. Eine Kolumne ist der Ort für unverbindliche und
ohne Aktualitätsdruck entstandene Gedankenströme.
In das Gästebuch
werden Grüße, Danksagungen, Beschwerden und Anregungen geschrieben. Ein
Gästebuch kann von jedermann eingesehen werden und zeugt von einem
hohen kulturellen Stand des Wirtes.
e) Kommentar, Lead, Teaser
Einem Kommentatoren ist aufgefallen, daß es mehrere Berichte zu einem Thema gibt, die nicht zusammenpassen. Er sieht, daß nicht geklärt ist, wie es weitergehen soll. Er versucht daher, den Leser davon zu überzeugen, daß nur eine der Berichterstattungen richtig ist. Die Stoßrichtung ergibt gleich den ersten Satz. Danach wird begründet, daß sich die Balken biegen. Anderslautende Stimmen werden als ungeeignet abgewiegelt. Zum Schluß verändert er noch die Tonlage. Er prophezeit allen denjenigen, die von seiner Linie abweichen, größtes Unheil. Ein Lead ist
der Vorspann eines Textes, der dem Leser Appetit machen soll, den ganzen
Text zu lesen. Eine kleine Sensation, dem Autoren ist scheinbar das
Unmögliche gelungen, weckt beim Leser die Neugier. Hoffentlich beißt er
an (und kauft das Produkt).
Zehn lange Jahre begleitete unser Reporter Homer die Kampfhandlungen in der Ägäis. Er war Augenzeuge, wie das hölzerne Pferd in die Stadt gezogen wurde... Ein Teaser besteht aus zwei, drei Sätzen, die provokant kommentieren, was den Leser nach Anklicken des Links erwartet. Wenn der nachfolgende Inhalt von sich aus bereits lesenswert genug ist, reicht auch eine kurze Zusammenfassung. Die Tore Trojas wurden von innen geöffnet. Trotz der Warnungen Kassandras wurde das hölzerne Pferd in die Stadt gezogen. (weiter) f) Bericht, Leitartikel, Mitteilung
Ein Bericht ist eine gefilterte Meldung und damit sicher nicht neutral oder gar objektiv. Ein Bericht ist 'political correct'. Ihm ist die herrschende Meinung so sehr eingeimpft, daß es die meisten Journalisten nicht einmal merken. Im Krieg wird die 'seriöse' Berichterstattung dann auch ganz schnell zu Propagandazwecken mißbraucht. Ein Leitartikel
ist die politische Vorgabe des Chefredakteurs oder Herausgebers, an die
sich die Publikation hält. Die Texte dieser Autoritäten finden sich im
Editorial oder auf der Titelseite. Die beanspruchte Richtlinienkompetenz
dient zugleich Reklamezwecken.
Mit einer Mitteilung
wird die Presse informiert. Ein vorbereiteter Text stellt die Sache so
dar, wie es der Urheber gerne möchte. Die Mitteilung sollte alle
wichtigen Fragen beantworten, damit der redigierende Redakteur glaubt,
er sei gut informiert.
III. Philosophie des Journalismus
Die Tabelle zeigt die philosophische Herkunft der journalistischen Darstellungsformen. Die (bisher nicht erwähnte) Glosse stammt von der Satire ab, das Portrait gehört zur Chronik. |
SPRACHE | DICHTUNG | FIKTION | IDOL | Was ist Journalismus? |
PATHOS | DRAMATIK | HANDLUNG | SCHEIN (idola specus) | |
Laune | Grundstimmung | Szene | Melodie | |
Spannung | Leidenschaft | Leben | Komödie | |
Humor | Witz | Sache | Satire | |
Komik | Ironie | Botschaft | Parodie | |
umständlich | Refrain | subversiv | Groteske | |
ganz einfach | Reim | Vers | Karikatur | |
ANALYTIK | TOPIK | TRAGIK | WISSEN (idola fori) | |
lesen | Quelle | Meldung | Nachricht | |
deuten | Aussage | Meinung | Reportage | |
begreifen | Hintergrund | Tragweite | Dokumenation | |
Sorgfalt | Anspruch | Gewichtung | Kritik | |
mehrdeutig | Argument | paradox | Kommentar | |
eindeutig | Erzählung | orthodox | Bericht | |
GRAMMATIK | RHETORIK | THEATER | ZEUS (idola theatri) | |
sigmatisch | Figur | Charakter | anweisen | |
semantisch | Zitat | Text | verweisen | |
syntaktisch | Rede | Entfaltung | Weisheit | |
pragmatisch | Stil | Diplomatie | beweisen | |
infinit | Poesie | Mittel | Art und Weise | |
finit | Prosa | Zweck | Erfolg | |
VERGLEICH | VERB | NOTE | MODUS (idola tribus) | CHRONIK |
reflexiv | persönlich | Rezension | Qualität | Autobiographie |
relativ | unpersönlich | Zensur | Quantität | Biographie |
IV. Technik des Journalismus
a) Nachricht, Überschrift, Link Für eine gelungene Überschrift braucht man zweierlei: Zum Ersten den richtigen Einfall, zum Zweiten einen Adressaten. Soll die Überschrift den Leser wachrütteln oder beruhigen? Steckt irgendein bleibender Nutzwert in dem Artikel oder ist der Text eigentlich nur für den Moment gedacht? Zwei Halbsätze in der Unterzeile helfen in der Regel aus größter Not. Der Phantasie kann man jedoch auch leicht Flügel verleihen. Ein ganz gewöhnliches Sonnen-Diagramm. Das Thema ist die Sonne. Am Ende der Sonnenstrahlen steht alles, was zum Thema passen könnte. Jetzt wird wie wild kombiniert. b) Reportage, Interview, Forum
Dem Autoren eines Interviews ist erlaubt, nachträglich einen roten Faden einzuflechten. Die Fragen- und Antwortpaare dürfen gestrafft und in ihrer Reihenfolge neu angeordnet werden. Die Umgangssprache muss nicht an die Schriftsprache angeglichen werden. c) Dokumentation, Feature/Analyse, Datenbank
Die Analyse ist das große Geschwister des Features. Als kleines und dummes Ding glaubte auch die Analyse noch daran, daß es möglich sei, allein durch die Erfahrung zu verbindlichen Sätzen zu kommen. Doch eines Tages sagte Karl Popper zu ihr: "Du bist naiv, was Du vorhast, geht nicht. Nimm Dir eine Hypothese und schau, wie weit Du damit kommst." Gesagt, getan, die Analyse nahm sich eine Hypothese, doch bereits nach kurzer Zeit stellte sie fest: "Ich kann die Hypothese nicht aufrecht erhalten, was soll ich nur tun?" Karl antwortete weise: "Wahr ist, daß Du die Hypothese nicht aufrecht erhalten kannst. Entscheidend ist, ... Welches Problem ist denn aufgetaucht?" "Ich wollte von einer Hypothese ausgehen und die Sachverhalte um mich herum analysieren, doch es klappt nicht. Jede Hierarchie, die ich mir baue, scheitert im Detail. Ist denn eine Analyse überhaupt möglich?" Karl war mit seinem Latein am Ende. "So ist er eben, der Fortschritt, jede Analyse überholt sich früher oder später selbst." Zum Glück wurde in der Nachbarschaft ein Haus
gebaut. Der Architekt kam vorbei und fragte die Analyse, ob ihr sein
Entwurf gefalle. Die Analyse schüttelte den Kopf: "Ich möchte am
liebsten das ganze Haus in seine Bestandteile zerlegen und wieder neu
zusammensetzen." Der Architekt lachte und erwiderte: "Du trägst Deinen
Namen zurecht. Lass mich Dir meine Arbeitsweise vorstellen:
Es ist ein ständiges Geben und Nehmen. Spiele
gleichzeitig mit mehreren Vermutungen, bis sie anfangen, sich
gegenseitig zu tragen. Sicher, vieles beruht auf Erfahrung, aber die
Hauptsache ist Kreativität. Was hierbei entsteht, ist logisch zwingend.
Hab auch keine Angst davor, die Wahrheit auszusprechen. Gerade dann
wirst Du wahrgenommen." Die Analyse war begeistert, endlich war ihr
klar, worauf es ankommt. Sie machte sich sofort an die Arbeit und lebt
bis heute fort.
d) Kritik, Kolumne, Gästebuch
Eine Kritik lotet aus, wie weit Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Sie zieht Vergleiche mit Werken von anderen Künstlern, die der Kritiker demnach kennen muss. Ansonsten blamiert er sich. e) Kommentar, Lead, Teaser
Der Versuch, dort Eindeutigkeit zu schaffen, wo es Mehrdeutigkeit gibt, ist vergleichbar mit einem Streitfall vor Gericht. Die Fakten liegen auf dem Tisch. Über sie wurde zuvor gerungen. Der Richter hat sie abgesegnet. Die Anklage und die Verteidigung halten ihr Plädoyer. Ob der Angeklagte nun schuldig ist oder nicht, entscheidet allein die Glaubwürdigkeit der Argumentation, was zu bewerten wiederum Aufgabe des Richters ist. (QUINTILIAN 35-100?) Nunc de argumentis: loci a persona schuldig!
loci a re schuldig!
f) Bericht, Leitartikel, Mitteilung
Das Wichtigste kommt zuerst, doch was ist das Wichtigste? Man stellt sich die richtigen Fragen und beantwortet diese. Danach kann es mit dem Schreiben losgehen. |
DARIES (1714-1772) | ARISTOTELES (384-322) | |
quis? | wer genau? | |
habitus | wer eigentlich? | |
quibus auxiliis? | wer noch? | |
quo modo? | wie? | |
actio | getan? | |
passio | erlitten? | |
quid? | substantia | was? |
qualitas | wie beschaffen? | |
quantitas | wieviel davon? | |
relatio | wieviel anders? | |
quando? | quando? | wann? |
situs | in welcher Situation? | |
ubi? | ubi? | wo? |
cur? | warum? |